wo sind wir?
WIR SIND IN MOSKAU. 1881
dobrÄ poschalowat! Du stehst hier auf dem roten Platz. Mitten im Herzen von Moskau. Nirgends ist die Schneise von Arm und Reich so gross als hier. Gerade wurde der Kaiser Alexander III., Sohn von Alexander II., gekrönt. Eine neue Herrschaft bahnt sich an. Nicht alle wollen ihn auf dem Thron sehen.
der stadtrat
BOAZ ROMANOW & Maija Chairowa
Dir liegt eine Frage auf dem Herzen? Oder du weisst nicht weiter? Dann wende dich einfach an den Stadtrat von Moskau.
was sagt die zeit?
FRÜHLING. APRIL & MAI.

Der Frühling lässt sein blaues Band. Es ist Frühling in Moskau. Die Pflanzen erwachen wieder aus ihrer Winterruhe. Die Sonne bricht durch die Wolken hindurch. Die Temperaturen liegen am Tag bei 19º Grad in der Nacht sinken sie auf noch auf 2º Grad hinunter.

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Fjodor Romanow

„Fehlverhalten!“, zischte er eine Spur zu laut. Sofort zog Fjodor den Kopf zwischen seine Schultern und sah sich nach allen Seiten um, besonders aber nach hinten, wo Anastasijas Bruder und Schwägerin ihr im Nacken saßen. Ein Glück, er konnte keine Veränderungen an ihrem Aussehen feststellen – immer noch schien der gute Mann die Vorstellung zu verschlafen, während seine Frau ganz und gar davon eingenommen war.
Fehlverhalten! Der, der sich wirklich fehlverhalten hatte, war wohl Daschas Ehemann gewesen. Sie hatte ihr Leben gerettet. Hatte ihre Töchter zurückgelassen, weil sie jeden Tag fürchten musste, endgültig niedergeschlagen zu werden...
Fehlverhalten.
Fjodor zog grimmig die Augenbrauen zusammen. So dachte man also auch im Hause Grigorjew über diese ganze Situation. Er ballte die Hand zur Faust und das Programmheft, das ohnehin nicht unbedingt liebevoll behandelt worden war, fand endgütlig sein Ende. Gnadenlos wurde es von der anderen, noch nicht zur Faust geballten hat, zerquetscht. Es kostete Fjodor alle Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, um nicht loszuschreien und seine Schwester und ihren sehr mutigen Schritt zu verteidigen. Zwar wurde an jeder Hausecke schlecht über die Romanows geredet, doch hatte er sich, warum auch immer, von dieser Bekanntschaft her mehr Verständnis erwartet. Schließlich waren sie keine Fremden sondern zu der Familie einst freundschaftlich verbunden gewesen, weshalb man die Verlobung ja arrangiert hatte. Er war aufgrund dessen einem Irrtum erlegen, für den er sich schämte.
„Vergessen Sie's“, knurrte er. Starr richtete Fjodor nun den Blick auf die Bühne. Er würde sich hüten, auch nur noch ein Wort mit dieser Frau zu wechseln! Was hatte er sich dabei gedacht, sie anzusprechen? Sie hatte sich kein bisschen verändert, gar nicht. Sie war gleich hochnäsig, arrogant und attraktiv wie vor der Lösung ihrer Verlobung gewesen.
Wie gut sie roch. Er sollte...

Der Pausengong ertönte. Sie flüsterte etwas. Für Fjodor unverständlich aufgrund des allgemeinen Gemurmel, das mit dem Gong eingesetzt hatte. Anastasija erhob sich und verließ die Loge. Der junge Mann hielt einen Moment inne. Er kämpfte den Impuls nieder, ihr sofort nachzulaufen. Er machte sich doch nur lächerlich.
Und doch konnte er es nicht leiden, wenn nicht er es war, der das letzte Wort gesprochen hatte. Also manövrierte er seinen gewaltigen Körper in die Höhe und drängte sich an den Leuten vorbei, nach Ana Ausschau haltend. Schon hatte er sie erspäht. Mit großen Schritten verkürzte Fjodor die Distanz zwischen ihnen. Als er sie erreicht hatte, fasste er sie sanft, aber bestimmt, am linken Ellenbogen und bugsierte sie entschlossen in die nächste Nische, die sich auftat. Keine Geste, die in der Gesellschaft geschätzt wurde weshalb Fjodor mit einem heftigen Protest ihrerseits rechnete, doch ehe Ana dazu die Möglichkeit hatte, hatte er auch zusätzlich zu ihrem Ellenbogen das Wort ergriffen.
„Es gibt nur einen, der sich in den letzten Jahren recht falsch verhalten hat“, erklärte Fjodor und sah dabei finster drein, „Ein feiner Herr nämlich, der meine Schwester geheiratet hat. Dass er sie nicht liebte, war eine Sache. So was kommt vor. Dass er sie nicht respektierte – nun, es ist nicht schön, aber auch dies kann in arrangierten Verbindungen schnell passieren. Dass er sie aber tyrannisierte, nein, dieses Schicksal will ich wirklich keiner Dame zumuten. Wen ich damit meinte, dass manche unsere Verbindung am liebsten leugnen würden – dazu zähle ich ungefähr jeden in Moskau, vor allem aber, und da bin ich ganz offen, Ihre Familie, Fräulein Grigorijew.“
Nachdem er alles gesagt hatte, was er loswerden wollte, war Fjodor wieder ruhiger. Er sah seiner ehemaligen Verlobten fest in die Augen. Doch nicht lange, denn all zu bald wanderte sein Blick zu ihren Lippen. „Haben Sie bereits einen anderen Mann in Aussicht?“, fragte er sie mit rauher Stimme, die Etikette völlig außen vor lassend.

Anastasija Grigorjew

<div align=justify><blockquote>Ana wusste schon in dem Moment, als ihr das Wort „Aufsehen“ über die Lippen kam, das es nicht gerade passend war, wenn auch weniger prekär, als ein anderes Wort das sie tunlichst vermied laut auszusprechen. Das gebot ihr Anstand in der Gesellschaft, wie auch den gebührenden Respekt gegenüber der Familie Romanow, wenn Ana auch nicht gerade Fjodor damit schützen wollte. Sie war noch viel zu sehr gekränkt, dass ihre Verlobung abgesagt wurde und sie inzwischen immer noch unverheiratet war. Auch wenn sie – wenn sie selbst hätte wählen dürfen – keineswegs Fjodor Romanow zum Ehemann nehmen wollte, so wäre sie immerhin verheiratet und keiner in der Gesellschaft würde sie langsam aber sicher als alternde Jungfer ansehen. Zwar würde es niemand wage, ihr dies ins Gesicht zu sagen, doch hinter ihrem Rücken hörte sie schon die spitzen Zungen über die Grigorjew Tochter das Maul zerreißen.

Sie blinzelte. Hatte sie gerade richtig vernommen, dass er ihr die Aufmachung machen wollte, als er zurück nach Moskau gekommen war? Nervös tippte sie mit den Fingern auf ihr Fernglas herum, außer Stande sich Gedanken darüber zu machen, was Ana ihm nun darauf antworten sollte! Verstohlen schaute sie über ihre Schulter auf ihren älteren Bruder, der aber immer noch nicht die Unterhaltung der beiden Entlobten mitbekam, da er … schlief. Jedenfalls hatte er die Augen zu. Kurz runzelte sie die Stirn, doch eigentlich sollte sie doch glücklich sein, das er nicht mitbekommen hatte, das Fjodor Romanow mit ihnen in eine Loge saß. Anastasija lehnte sich im Stuhl etwas zur Seite, damit niemand mitbekam, was sie nun sagte: „Verzeihen Sie, ich … ich glaube, mein werter Herr Vater hätte Sie womöglich nicht empfangen. Er brüskiert sich immer noch sehr über das Fehlverhalten ihrer Schwester.“ Oh je, hoffentlich erzürnt jetzt nicht auch er! Doch dann dachte sie an die nächsten Worte nach, die er gesagt hatte. Ana legte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Was meinten Sie mit der Aussage, dass manche dies gewiss nicht wahrhaben wollen? Ich verstehe nicht ganz was mir das sagen sollte.“ Redete er etwa von sich selber? Oder waren einige Freunde, Bekannte oder gar Familienmitglieder froh darüber, dass er Ana nicht geheiratet hatte?

Wieder zwinkerte sie, verblüfft diesmal. Flirtete Romanow mit ihr? Doch daraus wurde schnell ein Ärgernis. Missmutig kniff sie ihre Lippen fest zusammen. Sicher spielte er nur mit ihr. Ergötzte sich daran, dass sie womöglich auf seinen Charme hereinfiel. Doch nicht mit ihr! Resolut schaute sie schnell zu der Ballett Aufführung, welche Ana aber kaum folgen konnte. Ihre Gefühle waren dermaßen in Aufruhr. „Fräulein Grigorijew, sagen Sie es mir nur, wenn es Ihnen lieber ist, zu schweigen“, erdreistete er sich nun auch noch zu sagen. Er war es doch, der sie die ganze Zeit von der Aufführung abhielt. Machte ihr dauernd unnötige Komplimente und was weiß noch für Süßholzraspeln. Sie drehte sich mit erhobenen Brauen um und funkelte ihn an. Gerade als sie den Mund öffnete, ertönte der Gong für die Halbzeitpause und das Licht ging an. Ana erhob sich, flüsterte, dass sie sich ihre Nase pudern wollte und verließ beinahe blitzartig die Loge.

Fjodor Romanow

Aufsehen.
Fast hätte Fjodor auflachen müssen. Er rechnete es dem Fräulein Grigorjew recht hoch an, dass sie sich bemühte, einen geeigneten Ausdruck für die prekäre Situation zu finden. Dass sie aber gerade auf „Aufsehen“ gekommen war, fand der junge Romanow höchst amüsant. Denn tatsächlich passte das Aufsehenerregende auf die Familie.
„Nun, nach diesem Aufsehen, wie Sie sagten, wundert es mich wiederum nicht, dass Sie nichts von meiner Rückkehr vernommen haben. Ich hätte Ihnen auch gleich meine Aufwartung machen sollen, schließlich teilen wir doch einen gewissen Abschnitt unserer Vergangenheit, auch wenn die meisten das gewiss nicht wahr haben wollen“, flüsterte Fjodor und blinzelte Ana herausfordernd an. Damals hatte er geglaubt, dass ihm nichts Besseres hätte passieren können, als sie nicht heiraten zu müssen. Doch als er seine Ruhe gehabt hatte und nicht mehr von dieser wunderschönen Frau herausgefordert wurde, war ihm gewesen, als hätte ihm etwas im Leben gefehlt. Etwas Wichtiges. Und so, aber das behielt er lieber für sich, fiel es ihm schwer, Anastasija zu seiner Vergangenheit statt Zukunft zählen zu müssen.

Stille kehrte wieder ein. Nicht, dass sich beide besonders auf das Stück konzentrierten. Fjodor war damit beschäftigt, Ana aus den Augenwinkeln zu mustern. Ihren Duft einzuatmen. Ihre Anwesenheit wohlig zu spüren. So war ihm nicht entgangen, dass auch sie gelegentlich einen Blick auf ihn warf. Was dies zu bedeuten hatte, konnte er sich freilich nicht erklären. Bestimmt wollte sie nur gaffen, so wie die anderen auch. 'Aha, Fjodor Romanow, gescheitert auf sämtlichen Ebenen.'
Als die Schönheit neben ihm seufzte und das Fernglas entschlossen aber unwillig senkte, sah er überrascht auf, eine Augenbraue bis zum Haaransatz hochgezogen.
„Ja, ganz allein“, antwortete er ihr und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Er ahnte, dass er sie mit dieser Geste ärgern würde, denn was würde eine Frau von Stand mehr verstimmen, als sich plötzlich als Mittäterin eines gesellschaftlichen Randgängers zu wissen.
Er erhaschte einen Blick auf Anas Begleitung, weshalb sich eine höfliche Gegenfrage erübrigt hatte. Zum Glück, zu seinem Glück, bekamen jene noch nichts von der stattfindenden, geheimen Unterhaltung mit. „Fräulein Grigorijew, sagen Sie es mir nur, wenn es Ihnen lieber ist, zu schweigen“, flüsterte Fjodor, tat dies allerdings nur, da er sich fast sicher war, dass sie ein Schweigen nicht präferierte.

Anastasija Grigorjew

<div align=justify><blockquote>„Wieso sollten Sie mich auch bemerken?“ Bei seinen stichelnden Worten, hob sie eine geschwungene Augenbraue. Ein Indiz dafür, dass ihre Stimmung sank. Sie beließ es lieber darauf zu antworten. Auf seine nächste Antwort reagierte sie jedoch liebreizend, wenn er auch nicht den Anstand besaß, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. „Das freut mich zu hören. Nach dem ganzen …“ Skandal wollte sie schon sagen, „… Aufsehen Ihrer Familie, ist dies wirklich eine erfreuliche Nachricht.“ Anastasjia vergaß sicher nicht. Nicht den ganzen Kummer und Gram welcher auch ihrer Familie zugefügt wurde. Und ganz besonders Ana selbst. Nach dem publik werden des Skandals wollte sie sogar nicht mehr in die Öffentlichkeit, so sehr schämte sie sich. Außerdem war er und seine Schwester es Schuld, dass sie bis jetzt noch nicht verheiratet war! Sie schüttelte den Kopf. „Aber nein, ich habe nichts von ihrer Rückkehr vernommen.“ Und wenn, hätte man ihn totgeschwiegen.

Ana versuchte mit bestem Willen, sich weiter auf die Ballettaufführung zu konzentrieren, doch ihre Augen wanderten immer wieder zu ihrem Sitznachbarn. Im Dunkeln der Loge war nicht viel zu erkennen, doch was sie sah, ließ sie gedanklich nicht mehr los. Es war eine ganze Weile her, seit sie Fjodor Romanow des Letzt gesehen hatte und bei dem ganzen Skandal um seine Familie, war sie sich ziemlich sicher, dass man ihm dieses auch ansehen konnte. Doch zu ihrem eigenen Bedauern, musste sie zugeben, dass er sich fast gar nicht verändert hatte. Vielleicht war er sogar noch attraktiver geworden. Nicht, dass es ihr etwas ausmachen würde. Ihr war es vollkommen gleichgültig, wie Romanow aussah. Ihr Kopf senkte sich etwas zur Seite und sie linste an seiner Kleidung herunter. An seinem Kleidungsstil konnte sie wahrhaftig nichts aussetzten, sie saß perfekt und wüsste man nichts von dem Skandalträchtigen Geschichten, hätte man nichts Verdächtiges an ihm gefunden. Doch Anastasjia wusste es natürlich. Sie richtete ihr Augenmerk wieder seinem Gesicht, das dunkle glänzende Haar und die maskulinen Wangen.

Ihr Kopf ruckte schnell nach vorn, wo sie nur habherzig dem Stück zuschaute und versuchte, ihre Gedanken nun von dem Mann neben ihr zu lösen. Ana reckte ihr Kinn, nahm das goldene Fernglas in die behandschuhte Hand und schaute den Tänzern näher zu. Doch sie gab dem Versuch nach weniger als eine Minute auf. Ihre Konzentration war dahin. Seufzend senkte sie das Fernglas und wünschte sich sehnlichst die Pause herbei, damit sie ihre Nase pudern und sich wieder zusammenreißen konnte. Oder es war besser ihre Schwägerin und ihrem Bruder Bescheid zu sagen, dass sie sich nicht wohlfühlte und nach Hause wollte.
Sein Kompliment, so unerwartet, machte sie für einen kurzen Moment sprachlos und zu ihrem eigenen Missvergnügen, färbten sich ihre Wangen leicht rosa. Oder wollte er sie nur beleidigen? Ana wusste es nicht, nahm aber ersteres eher an. „Ich danke Ihnen.“ Sie schaute sich um. Keine Schwester? Keine Ehefrau? „Sind Sie allein hier?“

Fjodor Romanow

Anastasija Grigorjew.
Sie hatte sich kein bisschen verändert. Sie war immer noch umwerfend schön. Wenn er sie ansah, stockte ihm der Atem. Ein Blick in ihre Augen und er fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Ein Blick in ihre Augen und es war, als würde er schwimmen, schweben, fliegen. Alles, nur nicht mit irdischen Gefühlen belastet werden.
Anastasijas reine, weiße Haut wirkte immer noch sehr anziehend auf Fjodor. Ihr unaufdringlicher Duft nach Lavendel. Ihre samtigen Haare, die ihr liebliches Gesicht umrahmten.
Sie hatte sich nicht verändert.
Immer noch war sie gleich hochnäsig, wie vor der Lösung ihrer Verlobung. Wie sie ihr Näschen reckte in dem Bewusstsein, besser zu sein als er.

Und dieses Mal stimmte es sogar.
Bei diesem Zusammentreffen war Anastasija sehr viel besser als er.
Es traf ihn hart. Einst waren sie ebenbürtig gewesen, obwohl sich seine Verlobte für sehr viel nobler gehalten hatte.
Fjodor rümpfte die Nase. „Wieso sollten Sie mich auch bemerken?“, flüsterte er und senkte anschließend ergeben den Blick. Nun konnte er anderen nur noch dienlich sein. Erwartungen für sich brauchte er jedenfalls nicht mehr zu hegen.
„Oh, ganz ausgezeichnet“, log Fjodor. Ihr gegenüber war er jedenfalls nicht gewillt, anderes einzugestehen. Nein, das nicht. Aber er hätte ihr gerne anderes gesagt. Wie schön sie aussah. Wie sehr er sie vermisst hatte. Ihren bissigen Ton. In all den Jahren hatte es keine Frau geben, mit der er sich ähnlich herrlich hatte streiten können...
„Noch nicht all zu lange. Ich frage mich... Haben Sie wirklich nichts von meiner Rückkehr vernommen?“, wollte Fjodor im Flüsterton wissen. Nun wurden die Romanwos nicht nur an allen Ecken geschnitten, sondern sogar totgeschwiegen. Und dies war um Einiges schlimmer zu verkraften.
„Das gedämmte Licht schmeichelt Ihnen sehr“, ließ er sich zu einem... Nun, wenn man großzügig sein wollte, konnte man es sogar ein Kompliment nennen.

Anastasija Grigorjew

<div align=justify><blockquote>Mit verträumtem, ja gar entzücktem Gesichtsausdruck, schaute Ana den leichtfüßigen Tanzschritten und Sprüngen der Ballerinas zu, die zum Klang des Orchesters tanzten und ihre Pirouetten drehten. In der Loge saß sie vorne an der Brüstung und hatte so freie Sicht. Gelegentlich beugte sie sich mit gekreuzten Armen nach vorne und bewegte ihren Kopf zum Takt der Musik. Bei den dramatischen Szenen hielt sie die Luft an und zerknüllte mit beiden Händen das Programheftchen. Es gab keinen geeigneteren Abend, als dem russischen Ballett zuzuschauen. Die Loge in denen die drei Grigorijews saßen, war groß genug, um noch weitere Besucher Platz zu bieten und da sie etwas verspätete eingetroffen waren, mussten sie sich damit abfinden, sie zu teilen. Bisher hatte Anastasija keinen Blick riskiert, da das Licht sowieso recht dunkel war und sie viel lieber der Vorführung zuschaute, um sich überhaupt Gedanken über die anderen Personen zu machen.

Neben ihr saß ihre Schwägerin, genauso in das Stück vertieft, wie sie selbst. Ihr Bruder Mikhael saß einen Stuhl hinter ihr eher gelangweilt auf die Bühne und jedes Mal, wenn sie sich zu ihm umdrehte, bemerkte sie seinen genervten Blick zu seiner Taschenuhr. Er war nur ungern mitgekommen, doch da er seine jüngere Schwester und seine Ehefrau nicht allein hatte gehen lassen können, musste er sich notgedrungen den Wünschen der beiden Damen fügen. Sie lächelte still in sich hinein und gab sich selbst das Versprechen, ihm nachher in der Halbzeitpause einen dankenden Kuss auf die Wange zu geben.

Die derzeitige Szene, wo sich die beiden Liebenden immer wieder in den Armen vielen und doch wieder voneinander getrennt wurden, war derart rührend, das sich in ihren Augenwinkeln Tränen sammelten. Wie wunderschön. Ein ungehaltenes Schnaufen ihres Sitznachbarn, ließ sie aber aus ihren Träumereien reißen und sie blickte genervt zu ihm, um den Herrn mit eindeutigen Blicken zur Ruhe zu Bitten. Doch schnell riss sie ihren Kopf wieder nach vorn. Ihr Herz sank ihr in die Knie und Ana wurde blass. Oh weh! Welche Schmach! Ausgerechnet Fjodor Romanow! Hier! Direkt neben ihr! Sie saß stocksteif auf ihren Stuhl, während die Tanzaufführung weiterging, sie aber keinen Blick mehr für sie hatte. Ihr Innerstes war vollkommen aufgewühlt. In ihren Gedanken fragte sie sich, ob er sie ebenfalls erkannt hatte. Mit dem linken Fuß versuchte sie verstohlen ihre Schwägerin auf sich aufmerksam zu machen, doch die Röcke waren zu weit und sie traf nur das Stuhlbein. Plötzlich fiel ihr etwas vor die Füße und ehe sie sich versah, bückte sich ihr Ex-Verlobter nach dem Gegenstand. Ana hätte am liebsten so getan, als würde ihre Aufmerksamkeit ganz dem Ballett gelten, doch da sprach er sie schon an.
Jetzt hieß es nur, ebenfalls überrascht und völlig natürlich zu geben. „Herr Romanow“, sagte sie so gelassen wie sie konnte und gab ihrer Stimme noch eine Würze Hochnäsigkeit mit. „Wie überaus überraschend, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Wie geht es Ihnen? Sind Sie schon länger wieder in Moskau?“

Fjodor Romanow Unerwartet absichtlich

4. April, abends
Ballettvorführung im Bolschoi


Ein Sprung. Das Publikum schien die Luft anzuhalten. Sie landete sicher in seinen starken Armen. Er schwang sie, hob sie über seinen Kopf, das Ensemble schloss einen Kreis um die Liebenden.
Wie rührend.
Fjodor atmete tief ein und wieder aus. Für gewöhnlich gefielen ihm Theatervorstellungen recht gut. Es war eine willkommene Abwechslung, die Sorgen des Alltags zu vergessen und sich ganz den Interpretationen auf der Bühne hin zu geben. Die Kostüme zu bewundern, der Musik zu lauschen, die schauspielerische Leistung zu beurteilen. An diesem Abend hätte er die Zerstreuung auch nötig gehabt. Die Sorgen waren wieder übermächtig gewesen. Doch das einzige, das am Bolschoi gezeigt wurde, war Ballett.
Die Musik änderte sich schlagartig. Trommeln wirbelten und das tanzende Ensemble zeigte sich recht aufgeschreckt und trippelte von den Liebenden weg. Diese sahen sich panisch nach allen Seiten um und was nun folgte – das konnte sich Fjodor bildlich ausmalen, war es doch meistens das gleiche.

Deshalb ließ er seine Blicke schweifen. Sie wanderten von Loge zu Loge. Hier und dort sah er ein paar bekannte Gesichter. Doch es war keines dabei, das seine Aufmerksamkeit für länger gefesselt hätte. Mit wem er sich wohl die Loge teilte? Zugegeben, Fjodor war an diesem Tag etwas mürrisch und verstimmt gewesen, sodass er einfach Platz genommen hatte, um sich von der Darbietung berieseln und auf andere Gedanken bringen zu lassen.
Um so überraschter war er, als er das Fräulein Grigorijew neben sich erblickte. Keine 30 Zentimeter trennten sie voneinander! Ausgerechnet sie beide…
Fjodor schnaufte und zwang seinen Blick zurück auf die Bühne. Die Liebenden trennten sich. Vor seinem inneren Auge blitzte aber das Bild seiner Sitznachbarin auf. Er kurze Moment, als er sie gesehen hatte, hatte ausgereicht, dass er sich jedes Detail, das sie an diesem Abend ausmachte, einprägen konnte. Unwillkürlich. Denn Fräulein Grigorijew gehörte, wie so vieles, der Vergangenheit an.

Fjodors Programmheft purzelte jäh und unerwartet vor Anastasijas Füße. Viel zu rasch, als, dass es wirklich jäh und unerwartet zu Boden gesegelt wäre, bückte sich der junge Aristokrat danach. Und spätestens in dem Augenblick, in dem sich seine Finger um das Papier schlossen, wussten aufmerksame Beobachter: Nicht unerwartet, sondern absichtlich war eben jenes passiert.
„Verzeihen Sie“, flüsterte Fjodor und tat überrascht, als es Anas Augen waren, in die er blickte, nachdem er sich aufgerichtet hatte. „Oh, Fräulein Grigorijew! Wie unerwartet, Sie hier zu sehen…“


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