wo sind wir?
WIR SIND IN MOSKAU. 1881
dobrÄ poschalowat! Du stehst hier auf dem roten Platz. Mitten im Herzen von Moskau. Nirgends ist die Schneise von Arm und Reich so gross als hier. Gerade wurde der Kaiser Alexander III., Sohn von Alexander II., gekrönt. Eine neue Herrschaft bahnt sich an. Nicht alle wollen ihn auf dem Thron sehen.
der stadtrat
BOAZ ROMANOW & Maija Chairowa
Dir liegt eine Frage auf dem Herzen? Oder du weisst nicht weiter? Dann wende dich einfach an den Stadtrat von Moskau.
was sagt die zeit?
FRÜHLING. APRIL & MAI.

Der Frühling lässt sein blaues Band. Es ist Frühling in Moskau. Die Pflanzen erwachen wieder aus ihrer Winterruhe. Die Sonne bricht durch die Wolken hindurch. Die Temperaturen liegen am Tag bei 19º Grad in der Nacht sinken sie auf noch auf 2º Grad hinunter.

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Iwan Komarow

<blockquote> <font style="line-height:18px; font-size: 11px;"><p align="justify">Langsam aber sicher war es an der Zeit, dass sich sein Gegenüber ein Urteil bildete, wie Iwan fand. Entweder sie glaubte an unlautere Absichten seinerseits oder dergleichen und schickte ihn von dannen oder aber sie entschied sich für ein Gespräch, wie kurz es auch sein mochte. Mittlerweile wusste der blonde Russe nicht einmal mehr, weshalb er sich überhaupt zu der jungen Frau gestellt hatte, was seine Motive gewesen waren. Womöglich war es Mitleid gewesen, so selten er es auch empfinden mochte. Wenn dem so war, dann hatte er gerade einen Grund gefunden, weshalb er für gewöhnlich lieber auf Aktionen verzichtete, die von dieser Emotion getrieben wurden. Immerhin aber schien sie sich dafür entschieden zu haben, dass er ihr in nächster Zeit nichts antun würde; oder aber sie glaubte nicht, dass es ihr nicht noch schlechter ergehen konnte. Denn wie Iwan festgestellt hatte, galten die Blicke der anderen Menschen hauptsächlich seinem Gegenüber. In gewisser Weise verwunderte ihn dieser Umstand, andererseits gab es mittlerweile wohl kaum noch Menschen, die sein Gesicht und seine Geschichte miteinander verknüpfen konnten. Eine Tatsache, über die er sich wohl freuen konnte und es doch nicht so recht wagte. Ihm wäre lieber, sie wüssten, wo sie ihre Waren herbekamen und wer eines Tages den erfolgreichen Aufstand anführen würde, der noch immer sein größter Traum war.

Momentan war allerdings nicht der richtige Zeitpunkt für derartige Luftschlösser, sein Gegenüber hatte sich endlich erhoben und erwiderte die Begrüßung. "Es freut mich ebenfalls sehr, Darja Iouriewna Romanowa." Ihren vollständigen Namen wiederholte er vor allem deshalb, um ihn sich besser einprägen zu können. Dies tat er bei jeder neuen Bekanntschaft und war deswegen schon des Öfteren des Spotts verdächtigt worden, was er jedoch meistens mit einem Augenverdrehen und einem Kopfschütteln abtat. Es gab eben Leute, die sich selbst viel zu wichtig nahmen. Zu dieser Gruppe schien sein Gegenüber jedoch nicht zu gehören, schon alleine wegen dem Verhalten der anderen Menschen, die die Kirche verließen. Außerdem erinnerte ihn der genannte Name an etwas, das er in diesem Moment jedoch nicht zu erhaschen vermochte, vielleicht würde sich dies in Bälde noch ändern. Vermutlich war es eine jener Geschichten gewesen, wie sie in dieser Stadt des Öfteren von den hohen Adeligen geschrieben wurden und ähnelte der seinen zumindest in ihren Grundzügen.

Was immer es aber auch gewesen sein mochte, es hatte Darja nicht die Rücksichtnahme genommen. Andernfalls nämlich hätte sie sich um die letzten Betenden ebenso wenig gekümmert wie Iwan selbst. Andererseits verstand er ihren Vorschlag auch, außerhalb des Gebäudes hallte es nicht wie in dessen Inneren und die gewechselten Worte würden ausschließlich zwischen ihnen beiden bleiben; momentan teilten sie sie noch mit den Menschen in ihrer Umgebung. Vermutlich war es auch diesem Umstand zu verdanken, dass sie mehr verärgerte Blicke als zuvor noch geerntet hatten in den letzten Momenten. Deshalb nickte der blonde Russe und deutete mit seinem Arm Richtung Kirchentüre. "Vermutlich haben Sie recht." Langsam setzte er sich in Bewegung, darauf achtend, dass er Darja auf seinem Weg nach draußen nicht verlor, auch wenn dieser nicht sonderlich lang war. Schon bald befanden sie sich in der Frühlingssonne Moskaus und inmitten verschiedener kleiner Grüppchen, die wohl einen ähnlichen Plan verfolgten wie sie und sich bereits in diversen Gesprächen befanden. "Außerdem ist es hier draußen um einiges freundlicher als drinnen in der Kirche. Man hat schon beinahe Angst, ein jedes Wort zu viel könnte als Sünde gelten." Aus dem Mund anderer Menschen wären diese Worte vermutlich als Scherz erklungen, Iwan jedoch meinte sie im tiefsten Innern durchaus ernst. "Man erwartet Sie doch nicht bereits?" </font></p></blockquote>

Darja Romanowa

<blockquote>Wenn dies ein schlechter Scherz sein sollte, dann ein äußerst gut ausgeführter. Darja bildete sich mittlerweile einiges auf ihre Menschenkenntnis ein, immerhin war diese spätestens seit ihrer Scheidung zu einem wichtigen Werkzeug des Überlebens im Alltag geworden – aber selbst ein weiterer musternder Blick in Richtung des Fremden ließ diese Fähigkeit nicht warnend anschlagen. Sie bemerkte keinerlei Bösartigkeit in den Gesten oder gar den Worten, die ihr entgegengebracht wurden. Stattdessen nu ehrliche Freundlichkeit, eingebettet in formvollendete Höflichkeit. Selbst Darja konnte deshalb nicht eisern auf ihr Misstrauen beharren. Die düsteren Blicke der Umgebenden ignorierend, stand sie deshalb von ihrem Platz auf, um ihr Gegenüber zu begrüßen. Allein schon der Anstand gebot dies. Während sie sich erhob raschelten die Stofflagen ihres Kleides – schwarzer, hochgeschlossener Taft, in einem Stil, der langsam aus der Mode kam. Eine Tracht, die einer Witwe alle Ehre gemacht hätte und doch ein Überbleibsel aus besseren Zeiten.

Um ihre folgenden Worte zu unterstreichen, vollführte Darja zuerst einen leichten Knicks. „Ich bin sehr erfreut, sowohl über diese Begegnung als auch über ihren Vorschlag. Ich selbst heiße Darja Iouriewna Romanowa und ich bleibe aus begründetem Anlass die meiste Zeit lieber für mich. Vielleicht hat man sich ja deshalb bisher noch nicht kennengelernt.“ Genauer wollte sie auf dieses Thema vorerst nicht eingehen. Sagte ihr Name ihm etwas, dann wusste er mit dieser Anspielung bestimmt etwas anzufangen. Wenn nicht, dann wollte sie ihn nicht unmittelbar auf ihre momentanen Probleme hinweisen. Das wäre nicht angebracht gewesen. Außerdem war er bestimmt nicht blind, ihm konnte die Abneigung der anderen nicht entgangen sein. Wenn es ihn interessierte, würde er vermutlich irgendwann einmal genauer nachfragen. Er selbst hatte sich schließlich auch recht vage gehalten. Im ersten Moment hatte bei der Erwähnung seines Namens irgendetwas in ihrem Kopf geklingelt, sie hatte den Gedanken jedoch nicht zu fassen vermocht. Er war ihr wie ein glitschiger Fisch entwischt. Dementsprechend war er für sie momentan ein völlig Fremder.

Noch einmal sah sich die junge Frau in der Kirche um. Zwischenzeitlich hatte sich das Gebäude Gottes fast vollständig geleert. Nur vereinzelt sah man noch Gläubige mit geschlossenen Augen auf Knien ausharren, um Gebete an ihren Schöpfer zu richten. Selbst der Priester hatte seinen Platz am Altar verlassen. Vermutlich hatten sich die meisten jedoch nur vor der Kirche versammelt. Solche sonntäglichen Zusammenkünfte waren für die meisten Menschen schließlich willkommene Gelegenheiten um sich zu treffen und auszutauschen. Wie viele Gerüchte waren hier wohl schon verbreitet, wie viele geschäftliche Abmachungen getroffen worden? Da es allerdings etwas unangemessen wäre, die wahrhaft Erleuchteten von ihrer Kommunikation mit dem Herrn abzuhalten, indem man sie durch ein privates Gespräch störte – die Echos ihrer Stimmen brachen sich vielfach an den steinernen Mauern – wies Darja nun auch darauf hin. „Wären Sie damit einverstanden, wenn wir uns zum Vorplatz der Kirche begäben? Auch wenn es hier sichtlich ruhiger und ungestörter ist, sind weltliche Gespräche hier vielleicht doch etwas unangebracht. Oder was meinen Sie?“ Fast wunderte sie sich selbst, dass sie noch Rücksicht auf die Gefühle ihrer Umwelt nahm. Um sie kümmerte sich schließlich auch niemand. Einmal abgesehen davon, dass sie eigentlich nie so gläubig gewesen war, dass sie jemals behauptet hätte, die Kirche wäre nur für himmlische Kommunikation geeignet. Allerdings musste sie auch Rücksicht auf die eventuell vorhandenen Ansichten ihres Gegenübers nehmen, diese kannte sie schließlich nicht.</blockquote>

Iwan Komarow

<blockquote> <font style="line-height:18px; font-size: 11px;"><p align="justify">
Wie so oft an einem Sonntag drängten sich Iwann immer stärker die Vorstellungen von einem Himmel auf, wenn es denn einen geben sollte. Sein Vater würde darin Heimat finden, so viel stand fest für den jungen Mann. Doch gab es ansonsten kaum Vorstellungen, die dauerhaft in seinen Erinnerungen verankert blieben. Als Kind war der Himmel für ihn eine unendlich große Wiese gewesen, mit vielen Bäumen und einer immer scheinenden Sonne. Heute sahen seine Visionen ein wenig düsterer aus, beheimateten oftmals Mond und Gewässer jeglicher Art. Die einzige Gemeinsamkeit mit dem Paradies seiner Kinderzeit fand sich in dem Naturszenario. Er würde es nicht ertragen, für alle Ewigkeit in einem Gebäude eingesperrt zu sein, egal wie prunkvoll und weitläufig es auch sein mochte. Irgendwann würde es ihn überfallen und er würde gegen die Wände laufen, womit es vorbei wäre mit einem himmlischen Leben. Doch vermutlich waren es ohnehin Bilder, von deren Wahrheitsgehalt der blonde Russe sich niemals würde überzeugen können. Denn wenn es nach den Ansichten der Bibel ging, hatte er bereits zu viel Unrecht getan, als dass ihm noch ein Platz an der Seite Gottes gewehrt werden würde. Zumindest, solange er nicht zur Beichte ging und alle Sünden vor dem Priester auslegte. Daran hätten jedoch wohl weder der Geistliche als auch Iwan selbst Freude.

Vor allem, da er schon jetzt wieder an neuen Sünden arbeitete. Denn die Gerechtigkeit war unendlich viel mehr wert als Seelenheil. Auch wenn im Fall des jungen Russen das eine nicht ohne das andere existieren konnte. Und deshalb würde er seinen Weg weitergehen, war froh, dass er ihn bereits in so jungen Jahren gefunden hatte; auch wenn die Umstände damals zu wünschen übrig gelassen hatten. Doch wäre es nicht so gekommen, würde er sich heute wohl mit den Strömen um ihn herum bewegen, um ein wenig über oberflächliche Dinge und Fehltritte, die eigentlich kaum der Rede wert waren, philosophieren. Vermutlich wäre er mittlerweile auch verheiratet, wenn er nicht bereits Nachwuchs sein Eigen nennen können würde. Alles in allem erschien ihm das Leben, das er führen könnte, überhaupt nicht erstrebenswert. Auch wenn es wohl nicht viel mehr als eine handvoll Leute gab, die ihm diese Aussage glauben würden. Die meisten strebten nach einem Leben ohne besondere Sorgen, in dem sie sich nur um den nächsten Tag kümmern mussten und sich immer weiter von der ganz hohen Schicht blenden ließen, während ihnen Wertegefühl und Empathie schrittweise entglitt.

Und wie auf Kommando konnte er diese Feststellung auch heute wieder unter Beweis stellen, es war ihnen allen anzusehen an der Art und Weise, wie sie von dannen schritten oder sich in kleinen Grüppchen zum sonntäglichen Plausch versammelten. Sie alle sahen in Iwan nicht mehr als einen weiteren Busch oder dergleichen, es nicht unbedingt wert, angesprochen zu werden. Auch wenn er nun endlich das eine oder andere bekannte Gesicht erspähte, dass er schon bei nächtlichen Spaziergängen gesehen oder mit manch einem gar schon verhandelt hatte, jedoch nicht mit seinen üblichen Gütern. Diese Verhandlungen hatten sich um andere Dinge gedreht, hatten mit Menschen stattgefunden, die trotz ihres Standes noch ein wenig Gefühl für die Wirklichkeit behalten hatten. Natürlich waren dies hauptsächlich die niedrigsten Adeligen überhaupt, denen es oftmals nicht viel besser ging als dem Rest der Bevölkerung, der nicht der Aristokratie angehörte; zumindest wenn es um gesellschaftliche Stellungen und Bevorzugungen ging. Und wie es den Anschein erweckte, gehörte auch die Dame vor ihm dieser Gruppe an, es hatte sich immer noch niemand um sie gekümmert oder war ihr zur Seite geeilt, nachdem sich Iwan ihr genähert hatte.

Auch ihre Reaktion auf sein Erscheinen ließ vermuten, dass sie auf keine Unterhaltung vorbereitet gewesen war. Sein erster Eindruck schien also alles andere als falsch gewesen zu sein. Iwan drängte sich seinem Gegenüber nicht auf, ließ ihm Zeit, seine Verwunderung zu überwinden. Er mochte nicht der Einfühlsamste sein, doch auch er wusste, wann es richtig war, sich zurückzuhalten und sich niemandem aufzudrängen. Stattdessen ließ er den Blick erneut schweifen und bemerkte hin und wieder einen abwertenden Blick in ihre Richtung. Ob diese jedoch an ihn oder aber an sein Gegenüber gerichtet waren, vermochte er nicht zu deuten; gewiss waren beide Antwortmöglichkeiten nicht vollkommen falsch. Es kam wieder ein kleines bisschen Bewegung in die Mimik der unbekannten Frau und Iwan konnte erkennen, wie sie sich an einem Lächeln versuche. Doch schien sie diese Geste ebenso oft zu gebrauchen wie der blonde Russe selbst. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen konnte er jedoch daran nichts Schlechtes finden; die besten Waffen stumpften ab, wenn man sie zu oft gebrauchte. "Ich dachte nur, sie könnten womöglich ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Für gewöhnlich halte ich mich eher im Hintergrund, vielleicht bin ich deswegen bisher immer in der Masse untergegangen. Iwan Komarow lautet mein Name." Der für gewöhnlich kühle Zug in der Gesichtspartie des blonden Russen verschwand, als er sich seinem Gegenüber vorstellte. Nun hatte sie einen Namen, den sie verfolgen lassen konnte, wenn sie ihm nicht über den Weg trauen wollte. </font></p></blockquote>

Darja Romanowa

<blockquote>Man konnte diesen Sachverhalt vielleicht ironisch finden, aber seit ihrer Rückkehr nach Moskau verglich Darja den sonntäglichen Kirchbesuch insgeheim gerne mit einem Gang durch die Hölle. Zu Beginn hatte sie noch gehofft, dass die Welle der Ablehnung, die ihr jedes Mal entgegen schlug, wenn sie das Gebäude betrat, irgendwann abebben würde. Allerdings hatte sie sich lediglich verlagert. Beim ersten Mal war sie offen angefeindet worden. Sie hatte sich hämische bis erboste Kommentare von wildfremden Menschen anhören müssen, die besagten, dass eine Sünderin wie sie nichts auf heiligem Boden zu suchen habe. Als Frau, die sich hatte scheiden lassen, hätte sie kein Anrecht mehr auf göttlichen Beistand. Dabei hatte sie eigentlich nicht mal eine Wahl. Sie hätte nicht daheim bleiben können, denn dort wäre es ihre Mutter gewesen, die ihre Vorwürfe hätte laut werden lassen. Sie solle sich nicht so anstellen, sie wäre doch selber Schuld an allem. Sie müsse sich dort sehen lassen, um wenigstens den Schein der Normalität zu wahren. Ehrbare Bürger besuchten nun einmal den Gottesdienst, da führte kein Weg dran vorbei. Es sei schon schlimm genug, dass sie selbst nicht mehr gehen konnte und stattdessen die Hausbesuche eines Priesters erwarten musste, um die Sakramente zu empfangen. Ja, ihre Mutter hatte gut reden.

Mittlerweile hatte sich die Ablehnung ihrer Umwelt verlagert. Statt abfällige Worte zu äußern, zeigten die anderen ihre Gefühle jetzt durch eine abwesende Körperhaltung. Setzte sie sich auf eine Kirchenbank, rückten die anderen von ihr ab. Gesprochen wurde sowieso nicht mehr mit ihr und ganz davon abgesehen durfte sie sich auch nicht mehr an der göttlichen Liturgie beteiligen. Zwischenzeitlich hatte sie deshalb sogar schon überlegt, in Zukunft eine andere Kirche aufzusuchen. Einen Ort, an dem man sie kaum bis gar nicht kannte, an dem sie nicht mit den Vorwürfen der Kirchenmitglieder überhäuft werden würde. Letztendlich hatte sie diesen Gedanken aber nicht in die Tat umgesetzt. Sicherlich würde man ihr Fragen stellen und früher oder später würde doch wieder alles ans Licht kommen. Besser mit dem Übel leben, dass man kannte, als sich mit einem unbekannten zu befassen.

Das Schlimmste war aber vielleicht nicht einmal der offensichtliche Hass, dem sie sich konfrontiert sah, sondern die Zweifel, die sich mittlerweile in ihrem Innern ausgebreitet hatten. In der Vergangenheit hätte sie sich wohl ohne zu zögern als gläubigen Christen bezeichnet. Selbst der Tod ihres Vaters und die wenig romantischen Umstände ihrer Verlobung beziehungsweise Heirat hatten daran nichts geändert. Der Glauben war immer Bestandteil ihrer Erziehung gewesen und sie hatte ihn nie hinterfragt. Erst als ihr Mann sie zu misshandeln begann, kamen die vielen unbeantworteten Fragen. Wie konnte Gott das nur zulassen? Was hatte sie falsch gemacht um solch eine Behandlung zu verdienen? Und selbst nach der Äußerung ihres Entschlusses, sich scheiden zu lassen, war sie sich nicht hundertprozentig sicher gewesen, das Richtige zu tun. Vielleicht hatte Gott sie prüfen wollen. In diesem Fall hätte sie wohl kläglich versagt. Teilweise war es also auch ihre persönliche Unsicherheit, wegen der sie die Kirche am liebsten gemieden hätte.

Darja war heute wieder einmal so in Gedanken versunken, dass sie nur am Rande wahrnahm, dass sich der Gottesdienst dem Ende zu neigte. Sie selbst war in ein tiefes Gebet versunken, hatte ihre Hände gefaltet und ihre Augen geschlossen. Lediglich Stoffrascheln und leichte Luftzüge um sie herum zeigten ihr daher, dass die sie umgebenden Personen aufstanden und sich zum Gehen bereit machten. Dabei drückten sie sie das eine oder andere Mal auch etwas unsanft zur Seite, wenn sie sich ihren Weg zwischen den dicht aneinander gereihten Kirchenbänken hindurch bahnten. Sie war gerade mit ihrer Fürbitte an den Herrn fertig und öffnete ihre Augen wieder, als sich auch schon ein Schatten vor sie schob. Überrascht blickte Darja empor und wurde eines unbekannten Mannes gewahr, der sie mit einem Lächeln begrüßte.

Auch wenn dieses sofort wieder aus seinem Gesicht verschwand, war es doch das, was die junge Frau am meisten verwirrte. Wann hatte sie das letzte Mal solch eine freundliche Geste ihr gegenüber bei einem Fremden bemerkt? Das musste Ewigkeiten her sein. Verwundert schossen Darjas Augenbrauen in die Höhe und es dauerte einen Moment, bis sie sich darauf besann, dass es wohl das Beste wäre, genauso höflich zu antworten. Auch wenn sie einen Streich oder etwas ähnlich Gehässiges hinter dieser Begrüßung vermutete, wollte sie nicht sofort in die Defensive gehen. Das wäre nicht ihre Art gewesen und hätte auch ihrer Erziehung widersprochen. Und eigentlich sah der Mann auch gar nicht aus, als hätte er böse Absichten im Sinn. Vielleicht sollte sie hier ausnahmsweise auf ihr Bauchgefühl hören und ihr Misstrauen in einen hinteren Winkel ihres Kopfes verbannen. Stattdessen versuchte sie sich selbst an einem Lächeln, auch wenn es wohl eher einer Grimasse glich. Ihre Übung ließ in diesem Bereich schließlich schon seit Jahren zu wünschen übrig. „Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen guten Tag. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“</blockquote>

Iwan Komarow a sunday like any other

a sunday like any other
Darja & Iwan # 3. April # gegen Mittag


<blockquote> <font style="line-height:18px; font-size: 11px;"><p align="justify">
Gott ist für alle da, er gibt auf eine jede Seele acht und ist barmherzig. Dies war ein Satz, den Iwan vor allem in seinen Kindertagen des Öfteren gehört hatte. Und damals hatte er ihn noch geglaubt, hatte den Geschichten in der Bibel geglaubt und daran, dass alles gut werden würde. Es war ein beinahe naiver Glaube gewesen, zugleich jedoch auch die Versicherung, dass es seiner Mutter gut ging an der Seite des Herren; auch sein Vater war ein sehr religiöser Mann gewesen. Womöglich war dies der Hauptgrund, weshalb ihn die Ungerechtigkeit dessen, was seinem Vater widerfahren war, derartig getroffen hatte. Es hatte ihn erschüttert, was geschehen war und noch während er mitten in der Nacht heimatlos durch Moskau geirrt war, hatte er sich von der Gottesfigur losgesagt. Hatte an ihm zu zweifeln begonnen, wollte nicht mehr an all die Lehren glauben und an das, was man in der Kirche zu hören bekam. Denn würde es der Wahrheit entsprechen, was die Priester vorbeteten, dann hätte es einen jeden Menschen auf dieser Erde getroffen, aber nicht seinen Vater.

Und dennoch fand Iwan beinahe jeden Sonntag seinen Weg in die Kirche, verkörperte nach außen hin das Bild eines braven Bürgers, der auf sein Seelenheil hoffte. Im Gegensatz zu den meisten anderen jedoch ließ er sich nicht für die Worte des Priesters begeistern, sondern hing seinen eigenen Gedanken nach oder beobachtete die anderen Anwesenden. Wie in diesem Moment, als er möglichst unauffällig seinen Blick durch die Kirche schweifen ließ; zum Glück hatte er einen Platz in der letzten Reihe gefunden. Und wie so oft begann er sich zu fragen, ob die anderen Menschen wirklich ehrliche Gründe für ihr Hiersein hatten oder ob weniger edle Motive sie in die Kirche gebracht hatten. Iwan war davon überzeugt, dass zumindest die Hälfte der Anwesenden einen guten Schein nach außen hin bewahren und vielleicht um Vergebung für ihre letzten Sünden beten wollten, die gewiss nicht selten der Wollust zuzuordnen war. Auf den ersten Blick gab es lediglich eine Dame, die er keineswegs dieser Gruppe zuordnen würde. Sie schien von den anderen gemieden zu werden, niemand hielt sich in ihrer unmittelbaren Nähe auf, auch schien sie keinerlei Begleitung zu besitzen. Vermutlich eine Adelige, die sich einen kleinen Fehltritt geleistet hatte oder dergleichen. Auf jeden Fall gehörte sie nicht zu den Menschen, mit denen Iwan Tag für Tag zu tun hatte.

Immer wieder kehrte der Blick des jungen Russen zu der unbekannten Frau, während er sich zu fragen begann, wie wohl die Hintergrundgeschichte aussah, die zu einem derartigen Ergebnis führte. Auch wenn er sich die Richtung durchaus denken konnte, sie ähnelten sich doch ohnehin alle. Und sie hatten selten etwas mit richtigen Verbrechen zu tun, waren oftmals nur eine Erfindung des Hochadels, wenn ihnen wieder einmal langweilig war in ihren wohlgeordneten Leben. Ein passender Gedanke zum Ende des Gottesdienst, als sie ihn Frieden auf die Straße entlassen wurden. Abermals stach ihm hierbei die junge Frau ins Auge und Iwan fasste kurzerhand den Entschluss, sie anzusprechen. Womöglich würde es ja sogar ein nützliches Gespräch werden, aus dem er um ein paar Informationen reicher herausgehen konnte. Im schlimmsten Falle würde er abgewiesen werden, womit er ebenfalls leben würde können. "Guten Tag." Für einen Moment zierte ein Lächeln die Lippen des jungen Mannes, ehe er es jedoch von dort verbannte; er hatte für den heutigen Tag bereits genügend geheuchelt. </font></p></blockquote>


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